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Seitenblick Deutsche Zustände: Gesellschaft ohne Gnade

Im 6. Jahr präsentiert das Forschungsteam der Universität Bielefeld um Professor Wilhelm Heitmeyer die Ergebnisse ihrer Langzeitstudie zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (seit 2002). Erstaunlichste Erkenntnis dieses Jahr: Ökonomistisches Denken nach Effizienz und Nützlichkeit setzt sich auch im sozialen Zusammenleben als Kriterium durch.

 
Pressekonferenz zu sechsten Folge der Studie "Deutsche Zustände" in Berlin

Feindgruppe Nummer Eins: „Nutzlose“

Wer aus dem Schema der Effizienz fällt, wie Einwanderer, Obdachlose, Behinderte oder Langzeitarbeitslose, wird von rund der einem Drittel der deutschen Bevölkerung als menschlich weniger wertvoll betrachtet. Für diese massive Abwertung braucht es nicht einmal mehr eine rechtsextreme Grundeinstellung. Die kann aber gut an solche Mentalitäten anknüpfen.

Rechtsextremismus ist für Feindseligkeit nicht notwendig

Damit wird das Problem der Bekämpfung von den Menschenfeindlichkeiten, die Heitmeyer und sein Team in Deutschland erforschen, noch einmal komplexer: Es sind nämlich nicht nur politische Ideologien wie der Rechtsextremismus, die Abwertung oder Feindseligkeit gegenüber Gruppen anderer Menschen hervorbringt, sondern eben auch ökonomisch reduziertes Denken, wie es in wirtschaftlichen Zusammenhängen ja sogar als Wert erscheint. Heitmeyer betonte auf einer Pressekonferenz zur Studie am 13. Dezember 2007 in Berlin, dass er hier ein wichtige gesellschaftliche Verantwortung für Politik wie Zivilgesellschaft sehe, Umgangsmöglichkeiten zu entwickeln.

Moral als Luxus

Zum ökonomistischen Denken gehört die Zustimmung zu Aussagen wie: Auf Versager nehme die Gesellschaft zu viel Rücksicht (40 % Zustimmung), zuviel Nachsicht gegenüber nutzlosen Menschen sei unangebracht (44 %), die Gesellschaft kann sich keine Menschen leisten, die nicht nützlich sind (33 %), die Gesellschaft kann sich menschliche Fehler nicht mehr leisten (35%), moralisches Verhalten ist ein Luxus, den wir uns nicht mehr leisten können (26%). Entsprechend kommt zu den bisher untersuchten Gruppen, auf die sich Menschenfeindlichkeit bisher bezog – Einwanderer, Muslime, Juden, Homosexuelle, Behinderte, Obdachlose, Frauen – nun die Gruppe der Langzeitarbeitslosen hinzu, denen 56 % der deutschen Bevölkerung feindselige Einstellungen gegenüber hegen. Übrigens zieht sich diese Ablehnung durch alle sozialen Schichten: Menschen, die selbst vom sozialen Abstieg bedroht sind, verachten Langzeitarbeitslose ebenso wie Menschen aus gesicherten Verhältnissen.

Angst vor Arbeitslosigkeit steigert Fremdenfeindlichkeit

Eine weitere interessante Erkenntnis: Obwohl sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt derzeit stabilisiert, nimmt die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland weiter zu. Dies liegt allerdings nicht daran, so Heitmeyer, dass es zwischen Arbeitslosigkeit und Fremdenfeindlichkeit keinen Zusammenhang gäbe. Vielmehr sei es so, dass die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg nicht nur stabil geblieben ist, sondern gegenüber den Vorjahren sogar zugenommen hat. Und die Entwicklung zwischen dieser wachsenden gefühlten sozialen Desintegration und der wachsenden Fremdenfeindlichkeit sei eindeutig parallel.

Leichter Rückgang der Menschenfeindlichkeit auf hohem Niveau

Insgesamt konnte das Team des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung als statistische Trends für 2006 festhalten: Fast alle Menschenfeindlichkeiten sind leicht rückläufig – aber auf dem hohen Niveau der Vorjahre. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Islamphobie, Homophobie, Abwertung von Behinderten, Sexismus und das Beharren auf Etabliertenvorrechte nahmen ab. Vorurteile gegenüber Obdachlosen und Antisemitismus nahmen zu – die gegenüber Langzeitarbeitslosen wurden 2006 erstmals erhoben und stechen vor allem aufgrund ihres hohen Zustimmungsgrades in der Mehrheitsbevölkerung hervor. Heitemeyer warnte allerdings vor Erleichterung: Ein deutschlandweit rückläufiger Trend bedeute nicht, dass es nicht weiterhin Kommunen gäbe, in denen sich die Problem extrem verdichteten und deshalb sogar dramatischer wären als in den Jahren zuvor.

Wenig Ideen für Interventionen

Was nun die Arbeit gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit angeht, erschienen die Wissenschaftler auf der Pressekonferenz in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft wenig innovativ. Gefragt seien keine Patentrezepte, sondern immer eine genaue Analyse der Verhältnisse im lokalen Raum vor Ort – eine Erkenntnis, die viele Projekte in der praktischen Arbeit seit Jahren beherzigen. In den kommenden zwei Jahren wollen die Wissenschaftler der Universität Bielefeld einen Modellversuch sozialräumlicher Analysen in sechs ost- und sechs westdeutschen Kommunen starten. Die Besonderheit ihres Konzeptes vermittelte sich allerdings nicht, wobei sich aber auch herausstellte, dass es bisher nur für den Raum Anklam eine Finanzierung über die Bundeszentrale für politische Bildung gibt und so die Konzeptentwicklung vielleicht noch abgeschlossen ist.

Dieser Beitrag ist ursprünglich auf dem Portal „Mut gegen rechte Gewalt“ erschienen (2002-2022).

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