Es bedarf einiger ideologischen Umdeutungen, um Morden und Vergewaltigen als Widerstand darzustellen. Am 7. Oktober 2023 überfielen islamistische Terrororganisationen die israelische Zivilbevölkerung und machten unterschiedslos Frauen und Kinder, Senior*innen und Männer Opfer ihres Massakers, dem größten Massenmord an Jüdinnen*Juden seit der Shoah. Um diese Gewalt als legitimen Widerstand umzudefinieren, müssen diese Menschen als legitime Ziele dargestellt werden. Oft wird das heute mit dem Begriff des Siedlerkolonialismus begründet.
Dass Israel ein siedlerkolonialer Staat sei, gehört mittlerweile zum Einmaleins des Israelhasses. Als im Sommer 2024 die Berliner Universität der Künste mit antiisraelischen Stickern und Flugblättern beklebt wurde, fand sich darunter auch die Forderung „End settler colonialism“. Auf Demonstrationen wird dieser Generalangriff auf den jüdischen Staat weiter ausgeführt. Im Mai 2025 besuchte der israelische Staatspräsident Isaac Herzog Berlin. Auf einer Gegendemonstration befindet ein Redner, Israel sei nichts weiter als „ein Besatzungsstaat, ein rassistischer, faschistischer Apartheidstaat“. Herzog, wie jeder, der dort lebt, sei „ein Besatzer, ein Siedler, ein illegal sich befindender Mensch in Palästina“. Ideologisch ist damit die Verklärung von Mord in Widerstand vorbereitet. Die Ziele sind als legitim markiert.
Aber woher kommt die Rede vom Siedlerkolonialismus? Worauf bezieht sie sich? Und wieso findet sie heute vor allem Anwendung in Bezug auf den jüdischen Staat? Kirschs Buch nimmt hier seinen Ausgangspunkt. Es versucht das Ideologem des Siedlerkolonialismus vom 7. Oktober 2023 aus zu denken. Denn das Datum markiert „den Moment, in dem der Siedlerkolonialismus als Schlagwort einer neuen Ideologie in die Öffentlichkeit trat.“ Die Analyse dieses Ideologems ist die Voraussetzung für eine adäquate Kritik.
Kirsch begibt sich in seinem Buch in die Untiefen einer wenig bekannten, akademischen Disziplin. Damit leistet das Buch nicht nur eine „kritische Einführung in die Ideologie des Siedlerkolonialismus“, sondern liefert unverzichtbares, argumentatives Rüstzeug für die Kritik der aktuell stattfindenden antisemitischen Mobilisierung, die sich zunehmend auf die Delegitimierung des Staates Israels richtet.
Es gibt eine ganze akademische Richtung, die sich um den Begriff des Siedlerkolonialismus gruppiert, etabliert in Ländern, die als Siedlerkolonien gelten: Australien, USA, Kanada. Auf den ersten Blick geht es um „Empörung über Ungerechtigkeit“ schreibt Kirsch. Bei einem genaueren Blick falle aber auf, dass diese Ideologie keine Ideen für eine gerechte Zukunft formuliere, sondern eine andere Vergangenheit ersehne – und oft genug dazu genutzt werde, Gewalt in der Gegenwart zu legitimieren.
Denn was ist mit Siedler gemeint? „‚Siedler‘ ist demnach keine Beschreibung von Handlungen eines Einzelnen, sondern eine vererbbare Identität. […] Da es sich beim Siedlerkolonialismus um eine Struktur handelt, spielt jede nicht-indigene Person, die einen Platz in dieser Struktur einnimmt, die Rolle eines Siedlers“, so Kirsch. Demnach ist auch „jeder Bürger eines Siedlerkonialstaates, ein legitimes Ziel“. Bezogen auf die USA hat das die absurde Konsequenz, dass Nachkommen von europäischen Einwanderer*innen ebenso unrechtmäßige Siedler sein sollen wie die Nachfahren verschleppter afrikanischer Sklav*innen. Beide Gruppen hätten – laut dieser Logik – gleichermaßen kein Recht, dort zu leben.
Kirsch rekonstruiert die Geschichte des Begriffs, der vom Anthropologen Kenneth Good geprägt wurde, der damit „eine Handvoll afrikanischer Länder“ zu beschreiben versuchte, über den Historiker Patrick Wolfe der eine neue Definition für den Begriff der Siedlerkolonie etablierte und stark machte, dass es sich hierbei immer um die „Auslöschung einheimischer Gesellschaften“ handelte, bis zu Lorenzo Veracini, Chefredakteur der Zeitschrift Settler Colonial Studies, der diese Stoßrichtung aufnimmt und eine ganze Palette von Arten dieser Auslöschung vorlegt. Sein Ziel ist es, „jede mögliche Beziehung zwischen Siedlern und Ureinwohnern zu verurteilen. Inklusion und Exklusion, Nachahmung und Ablehnung, öffentliche Anerkennung und offizielle Auslöschung – all dies seien Varianten des Transfers, die alle an der Logik des Genozids teilhätten.“
Siedlerkolonialismus ist genozidal, so die einfache Logik. Diese Vorwürfe des Genozids sind keineswegs erst nach dem 7. Oktober entstanden, sondern bestehen schon viel länger, sie mussten nur auf den jüdischen Staat bezogen werden. „Wenn Besiedelung eine genozidale Invasion und diese wiederum eine andauernde Struktur und kein abgeschlossenes Ereignis ist, dann ist alles, was eine Siedlerkolonialgesellschaft heute stützt (und vielleicht jeder, der das tut), ebenfalls genozidal.“ Den angeblichen Tätern muss das nicht bewusst sein: Good betont, siedlerkolonial seien solche Länder zu nennen, „in denen die Menschen sich nicht als Siedler betrachten“.
Die Ideologie führe „alle Arten sozialer Ungerechtigkeit auf eine einzige Ursache zurück: die Raubgier europäischer Siedler“. Im Zentrum dieser Dynamik stehe „Unersättlichkeit“, die nicht nur den Kolonialismus, sondern auch den Kapitalismus antreibe. Beide Systeme beruhten auf der ständigen Aneignung von Land, Ressourcen und Macht.
Dabei stellt sich die Frage: Wie soll dieses Unrecht je wiedergutgemacht werden? Adam Kirschs Analyse zeigt: Die Siedlerkolonialismus-Forschung liefert keine konkreten Ideen für eine bessere Zukunft, stattdessen verklärt sie die Vergangenheit vor der „Besiedelung“: „Eine progressive Bewegung zeichnet sich durch den Glauben an eine Zukunft aus, die besser ist als die Vergangenheit; die Ideologie des Siedlerkolonialismus hingegen glaubt, die Vergangenheit sei besser gewesen als die Zukunft.“ Dennoch propagiere die Disziplin Veränderung und locke mit dem diffus bleibenden „Versprechen einer endgültigen Lösung“ : Ziel sei, „eine Geschichte über die Vergangenheit zur Veränderung der Gegenwart zu benutzen“. Dabei nimmt sie es mit den Realitäten dieser Vergangenheit nicht immer allzu ernst, wie Kirsch zeigt. Es ist kein Zufall, dass dieser Forschungsstrang lange Zeit vor allem der identitären Selbstverständigung diente. Akademiker*innen in angeblich siedlerkolonialen Gesellschaften stellten sich ihrer Geschichte und Identität. Als richtige Politik propagierten sie besonders die Annahme der eigenen Schuld sowie das Bekenntnis „zur Sünde moralischen Prestiges“.
Bezogen auf USA, Kanada und Australien bleibt die Ideologie des Siedlerkolonialismus also folgenloses Selbstgespräch. Bezogen auf Israel entfaltet sie aber eine gefährliche Wirkung, weil sich damit Terror legitimieren lässt. „Tatsächlich hat eine in der Ideologie des Siedlerkolonialismus erzogene Generation längst begonnen, ihre Prinzipien in die Öffentlichkeit zu tragen. Und das hat politische Konsequenzen, wie die Reaktion der Hamas-Befürworter auf die Anschläge vom 7. Oktober zeigt.“ Denn bezogen auf Israel scheint eine endgültige Lösung zum Greifen nah:
„Doch was wäre, wenn es ein Land gäbe, in dem der Siedlerkolonialismus nicht nur mit Worten bekämpft werden könnte? Wo all die ihm zugeschriebenen Übel – von ‚Leere‘ und ‚Unbehagen‘ bis hin zu wirtschaftlicher Ungleichheit, globaler Erwärmung und Genozid – ein menschliches Gesicht bekämen? Und am besten: wenn diese Siedlerkolonialgesellschaft klein und gefährdet genug wäre, um ihre Vernichtung als realistische Möglichkeit und nicht bloß als utopischer Traum erscheinen zu lassen? […] Ein Land, das man reinen Gewissens hassen könnte.“
Und so ist es der Israelhass, der in der Verbindung mit der Ideologie des Siedlerkolonialismus, Aktivist*innen das Gefühl gibt, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen und das Gute zu tun, während sie islamistischen Terror verharmlosen oder verherrlichen. Diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit, die vielen nach dem 7. Oktober Kopfzerbrechen verursachte, löst sich ein wenig auf, wenn man sich mit Kirsch auf das Wagnis einlässt, das wirkmächtige Ideologem des Siedlerkolonialismus zu begreifen.
Kirschs Buch ist brillant geschrieben und der Schlüssel zum Verständnis der antiisraelischen Mobilisierungen seit dem 7. Oktober. Die Lektüre sei hiermit allen ans Herz gelegt, die sich auf eine fundierte Weise mit dem Theorem des Siedlerkolonialismus auseinandersetzen wollen.
Adam Kirsch: Siedlerkolonialismus. Ideologie, Gewalt und Gerechtigkeit, aus dem Englischen von Christoph Hesse, mit einem Nachwort von Tim Stosberg. Edition Tiamat 2025, 200 Seiten, ISBN 978-3-89320-325-3

