„Lauter Hass – Antisemitismus als popkulturelles Ereignis“, ein Buch von Maria Kanitz und Lukas Geck, beleuchtet die Hintergründe dieser Entwicklung. Ein Interview über Festivals, die zu Kundgebungen werden, und persönliche Enttäuschungen.
Belltower.News: Ihr habt bereits einen Sammelband zu dem Thema Antisemitismus in der Musik veröffentlicht. „Klaviatur des Hasses“ erschien 2022. Drei Jahre, in denen viel passiert ist, sind vergangen, nun erscheint mit „Lauter Hass“ mehr als nur ein Update. Wie unterscheiden sich die beiden Bücher?
Lukas Geck: Vor drei Jahren ging es uns darum, einen Überblick zu schaffen über die verschiedenen Erscheinungsformen und Ausdrucksweisen von Antisemitismus in der Musikszene. Wir haben uns diverse Musikrichtungen angeschaut von Punk, Reggae, Rap bis zu Techno. Jetzt nach dem 7. Oktober richtet sich der Blick darauf, was sich verändert hat in den Ausdrucksweisen, in den Erscheinungsformen.
Maria Kanitz: Die „Klaviatur des Hasses“ erschien in einem Wissenschaftsverlag und ist ein Sammelband, in dem viele tolle Autor*innen ihre Expertise eingebracht haben. Wir haben jetzt aber angesichts der Fassungslosigkeit nach dem 7. Oktober und dem donnernden Schweigen, gemerkt, dass es offensichtlich auch Bedarf an niedrigschwelligen Zugängen gibt. „Lauter Hass“ verstehen wir als Angebot, in Austausch zu kommen ohne, dass man sich vorher sämtliche Theorien angeeignet haben muss. Es soll einen Einstieg ermöglichen in ein sehr komplexes Thema.
Und was sind da eure Beobachtungen?
LG: Sehr auffällig ist, dass heute enormer Positionierungsdruck herrscht. Es gibt eine Reihe von offenen Briefen, die das Massaker der Hamas verharmlosen, Boykottkampagnen, israelfeindliche bis antisemitische Protestsongs. Ein weiterer großer Trend sind Konzerte und Festivals, die immer stärker zu Kundgebungen werden. Prominente Beispiele sind Glastonbury und Acts wie Macklemore, Kneecap oder Massive Attack – aber es gibt unzählige Beispiele mehr. Doch schaut man genauer hin, kann man konstatieren, das hat es alles vorher schon gegeben. Wir haben es hier mit keiner neuen Entwicklung zu tun, das machen wir im Buch sehr deutlich. Es handelt sich vielmehr um einen Höhepunkt, der sein Initial im 7. Oktober genommen hat.
Wieso richten sich offene Briefe und Waffenstillstandsappelle quasi einseitig an Israel? Wäre die Chance auf ein Kriegsende und damit ein Benefit für alle Menschen in der Region nicht größer, wenn es auch um Druck auf die Hamas ginge?
MK: Dem liegt oft ein Ausdruck von Hilflosigkeit zugrunde. Die pauschale Vermutung, die Unterzeichner*innen offener Briefe seien von antisemitischen Motiven oder gar dem Wunsch nach der Auslöschung Israels getrieben, ist sicherlich falsch. Es liegt viel eher ein Ansinnen zugrunde, sich für Unterdrückte einzusetzen – was ja erst mal ein total nachvollziehbarer Antrieb ist. Am liebsten möchte man sich ganz klar auf der richtigen Seite positionieren. Doch bei einem vielschichtigen Thema wie dem Nahostkonflikt geht das nicht auf und dadurch bleiben diese Briefe meist unterkomplex. Sie schaffen es zudem nicht, darauf zu verweisen, dass hier nicht auf vergleichbare Regierungen geblickt wird. Wir haben es mit einer Terrororganisation zu tun, die ein immer noch demokratisches Land überfallen und Menschen als Geiseln genommen hat – wohlgemerkt eine Terrororganisation, die genauso auch ihre eigene Zivilbevölkerung unterdrückt. Solange das aber unsichtbar bleibt in den öffentlichen Äußerungen, greifen hinsichtlich Israel bestimmte Doppelstandards, die an andere Zivilbevölkerungen oder Staaten nicht angesetzt werden.
Das Schicksal der Geiseln oder auch nur ihre Existenz scheint in dem Engagement der Kulturszene heute – wie bereits direkt nach dem 7. Oktober – kaum eine Rolle zu spielen. Wie kommt es zu dieser Leerstelle?
MK: Ja, in den offenen Briefen taucht oft eher pflichtschuldig ein Satz zu den Geiseln auf. Dabei wird übersehen, was dieses Thema für die israelische Zivilbevölkerung, für Jüdinnen und Juden weltweit auch in der Diaspora bedeutet. Es sind nicht einfach irgendwie Menschen entführt worden, sondern das ist die Botschaft einer terroristischen Organisation: „Das kann euch allen passieren, das hier richtet sich gegen alle Jüdinnen*Juden.“ Dieser Aspekt wird gern ausgeblendet, um eine vereinfachte wie einseitige Positionierung zu ermöglichen. In solch öffentlichen Äußerung bildet sich dann die ohnehin spürbare Entsolidarisierung mit Jüdinnen und Juden erneut ab.
Auch der ESC stellte zuletzt eine große Bühne für den Nahost-Konflikt dar. Wie bewertet ihr das immer schrillere Begleitrauschen des popkulturellen Spektakels? Israel wird vorgeworfen, das Event propagandistisch auszuschlachten.
LG: Ich würde allerdings erstmal andersherum argumentieren wollen, damit in der Diskussion nicht unter den Tisch fällt, wie stark der ESC in den letzten Jahren vor allem genutzt wurde, um Israelhass zu äußern. Denn der ist nichts Neues, er begleitet die Veranstaltung schon seit der ersten Teilnahme des Landes im Jahre 1973. Zuletzt wieder besonders, als die Musikerin Netta 2018 mit dem Song „Toy“ gewann und damit den Wettbewerb im Nachfolgejahr nach Tel Aviv holte. Mit dem 7. Oktober 2023 hat sich das weiter zugespitzt. Eden Golan sah sich 2024 einem Shitstorm sondergleichen ausgesetzt, erhielt Morddrohungen. Ihr Auftritt konnte nur unter verschärften Sicherheitsvorkehrungen in Malmö überhaupt stattfinden, sie selbst konnte das Hotel nicht verlassen und hat an den offiziellen Treffen nicht teilgenommen, die für die Teilnehmenden ausgerichtet wurden. Während der Tage des Wettbewerbs protestierten Aktivist*innen in der ganzen Stadt. Dabei war Golan keine Vertreterin der israelischen Regierung oder wurde von Benjamin Netanjahu ins Rennen geschickt, sondern repräsentierte wie alle anderen ESC-Länder die Auswahl der jeweiligen nationalen Rundfunkanstalt.
2025 wurde Israel vorgeworfen, mit Yuval Rafael eine Überlebende des Novafestival-Massakers zu instrumentalisieren.
MK: Yuval Rafael hat das Hamas-Massaker auf dem Nova-Festival überlebt und stellt sich trotzdem auf eine Bühne. Es wurde stark kritisiert, dass sie nach dem Song die Arme öffnete und „Am Yisrael Chai“ („die Menschen Israels leben“) rief. Man sollte dabei aber verstehen, dass das ein starkes Signal der Resilienz war – für die Menschen in Israel, für Jüdinnen*Juden in der Diaspora. Wer sich hinstellt, um zu sagen, das werde jetzt einfach bloß ausgeschlachtet für die PR, sollte moralisch vielleicht einen Schritt zurücktreten.
Der ESC zieht sich gern darauf zurück, keine politische Veranstaltung zu sein.
MK: Ja, jedes Jahr aufs Neue wird so getan, als sei das alles komplett apolitisch – was ich persönlich für Quatsch halte. Man muss nur mal zurückschauen, in einer Zeit, als sich die Blockstaaten gegenüberstehen und atomare Bedrohung herrscht, gewinnt Nicole mit „Ein bisschen Frieden“, politischer geht’s doch kaum. Oder auch der Fall von Dana International. Sie ist als erste Transfrau 1998 für Israel angetreten und wurde eine wichtige Vorreiterin davon, dass der ESC im neuen Jahrtausend endlich ganz offen als queeres Event wahrgenommen werden konnte. Aber heute würde ich mich – als große ESC-Anhängerin – freuen, wenn man tatsächlich zurückkäme zu dem, was über die Veranstaltung immer gepredigt wird. Also dass es um Musik und um Gemeinschaft geht – und dass nicht zwei Jahre in Folge Sängerinnen, die einfach nur ihren Job machen wollen, so aggressiv bedrängt werden, weil man sie stellvertretend für eine Regierung zur Rechenschaft ziehen möchte.
Wir haben schon von Künstler*innen gesprochen, die sich zum Krieg in Nahost äußern, aber es herrscht auch ein Trend, Druck auf all jene auszuüben, die sich dazu nicht öffentlich melden. Kim Kardashian ist ein prominentes Opfer der Blockout-Bewegung, auch Billie Eilish wurde angegangen. Sollten sich wirklich alle äußern müssen?
LK: Die Entwicklung haben wir auch beobachtet bei der Recherche für das Buch. Billie Eilish hat sich letztes Jahr mit einem roten Pin bei der Oscar-Verleihung als solidarisch mit der palästinensischen Seite markiert. Aber es schwirren im Internet viele Listen herum – auf Instagram, Twitter etc. – die zeigen, wer sich wann und in welcher Intensität gegen Israel und pro Palästina geäußert hat. Wir haben es mit einer Verengung und Radikalisierung des Diskurses zu tun. Künstler*innen werden nur noch daran gemessen, ob sie genug Posts zu diesem einen Thema abgesetzt haben. Als wäre dieser Konflikt das einzige Problem und als wäre es einzig richtig, sich in eine bestimmte Richtung zu positionieren. Wer nicht mitmacht, wird unter Druck gesetzt.
Die #metoo-Bewegung hatte in den letzten Jahren einen großen Einfluss auf gesellschaftliche Debatten und besonders auch auf die Popkultur. Von ihr gingen viele emanzipatorische Impulse aus. Die sexualisierte Gewalt gegen Frauen am 7.10. hat in der Bewegung allerdings wenig Widerhall erzeugt.
MK: Ich glaube, das war für mich persönlich das Schlimmste. Da möchte ich als Frau sprechen: Wenn der Status Quo unter Feministinnen, dass man immer zuerst den Opfern glaubt, auf einmal nicht mehr gilt, weil du Israelin oder Jüdin bist, kann man sich doch jeden gemeinsamen Kampf für Solidarität abschminken. Natürlich sollte man das, was im Gazastreifen geschieht, kritisieren – und damit auch die Regierung Netanjahus. Aber dass sich ein Land gezwungen sieht, Videos zu veröffentlichen, auf denen Frauen bestialisch massakriert und vergewaltigt werden, um die Welt durch dieses – von den Tätern selbst mitgeschnittene – Material von den Ereignissen zu überzeugen, dann ist der Fokus bereits weit verschoben. Auch werden ehemaligen Geiseln wie Mia Schem, die sich danach öffentlich geäußert haben, nicht nur der Lüge bezichtigt, sondern regelrecht mit Hass überzogen. Dass jemand wie sie aus der #metoo-Community trotzdem keine Unterstützung zu erwarten hat, ist eine bittere Erkenntnis unserer Zeit.
Lassen sich die Probleme von Antisemitismus im Pop, die das Buch aufzeigt, lösen? Gibt es Perspektiven?
LG: Wir haben da keine universellen Antworten anzubieten. Ein Ansatzpunkt liegt aber sicher in der Musikbranche selbst – bei Konzertveranstaltern, Festivalveranstaltern, Labels, Musikkonzernen. Dass Leute dort nicht mit dem Druck und den verkürzten Diskussionen allein gelassen werden. Damit meine ich nicht nur Antisemitismus, sondern auch andere menschenfeindliche Ideologien, also auch was zum Beispiel Antifeminismus angeht genauso wie Homofeindlichkeit und Rassismus.
MK: Ich glaube auch, dass man viel institutionalisierter rangehen muss, im Sinne von Schulungen für Findungskommissionen, bei Jury-Besetzungen. Am Ende bleibt Kunstfreiheit ein hohes und wichtiges Gut – und es gibt sicherlich auch Sachen, die einem persönlich nicht passen, die man aber aushalten muss. Dennoch muss es klare rote Linien geben, wenn es um Terrorverharmlosung oder Aufruf zum Mord geht.


