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Montags-Demonstrationen In Sachsen entsteht eine „Pegida 2.0“ gegen Corona-Maßnahmen

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Coronaleugner:innen gegen Wasserwerfer am Montag, den 6. Dezember 2021, in Leipzig.
Coronaleugner:innen gegen Wasserwerfer am Montag, den 6. Dezember 2021, in Leipzig. (Quelle: picture alliance/dpa/Sebastian Willnow)

Nicht nur das Coronavirus, sondern auch die Proteste gegen Infektionsschutzmaßnahmen mutieren immer weiter: Das zeigt sich aktuell vor allem in Sachsen. Dort geht eine vierstellige Allianz esoterischer Impfgegner:innen, verschwörungsideologischer „Querdenker:innen“ und hartgesottener Neonazis auf die Straße. Mit wöchentlichen „Spaziergängen“ montags gegen die aktuellen Maßnahmen und eine künftige Impfpflicht wollen sie die aktuellen Einschränkungen für Demonstrationen im Bundesland umgehen. Aktuell liegt die Sieben-Tage-Inzidenz im Freistaat bei 1.125, im Landkreis Meißen sogar bei knapp 3.000. Ein bundesweiter Rekord.

Von Woche zu Woche wächst die Bewegung wie exponentiell – und sie wird immer radikaler. Vor dem Wohnhaus der sächsischen Gesundheitsministerin Petra Köpping (SPD) fand ein Fackel-Aufzug statt, auf Bannern und in Sprechchören wird zur Verhaftung oder gar zur Ermordung des neuen Feindbildes Nummer eins, des Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU), aufgerufen.

Vor diesem Hintergrund fand am 9. Dezember 2021 eine Pressekonferenz der Amadeu Antonio Stiftung zur Lage der Proteste in Sachsen statt. Benjamin Winkler, Rechtsextremismusexperte der Stiftung in Sachsen, betont dabei, dass die Ereignisse auf sächsischen Straßen nichts neu Entstandenes seien. „Die Coronaproteste in Sachsen passierten bereits am Anfang der Pandemie, kündigten sich aber auch schon vor der Pandemie an“, so Winkler.

Denn die jüngsten Proteste erinnern an die „Pegida“-Aufmärsche aus vielerlei Gründen, nicht nur wegen der ähnlichen Dynamik und personellen Überschneidungen. Auch die Strategie der Coronaleugner-Bewegung spiele eine Rolle, so Winkler. Sie behaupten gegenüber Polizei und Öffentlichkeit, dass sie keine Versammlungen durchführen würden – sondern Spaziergänge. Die Bürger:innen würden sich spontan in der Stadt versammeln. „Das ist eine Trickkiste“, sagt Winkler.

Aktuell gelinge es zudem nicht nur in den bekannten Städten des Landes, zahlreich Mitstreiter:innen zu mobilisieren, sondern auch in unbekannteren Orten, zum Teil kleinen Dörfern. „Wir können schon von einer sachsenweiten Bewegung sprechen“, erzählt Winkler. „Natürlich gibt es aber regionale Schwerpunkte“. In manchen Orten gehen laut Polizei bis zu 7.000 Demonstrierenden auf die Straße, die Veranstalter:innen geben deutlich höhere Teilnehmer:innenzahlen an. Winkler nennt „kleine Widerstandsnester“ der Coronaleugner-Szene wie Bautzen und Zwönitz, wo seit Pandemiebeginn Demonstrationen nahezu ununterbrochen stattfinden.

Die aktuellen Demonstrationen wirken dezentral organisiert, doch das sei nur die halbe Wahrheit, argumentiert Winkler. Telegram-Kanäle, wie die der während der Pandemie gegründeten Kleinstpartei „Freie Sachsen“, haben inzwischen über 100.000 Abonnent:innen auf Telegram sowie diverse lokale Ableger. Sie spielen eine Schlüsselrolle bei der Mobilisierung. „Das ist keine Plattform von besorgten Bürgern“, warnt Winkler, „sondern dahinter stehen glasklare Neonazis“. Szenebekannte Rechtsextreme nehmen dort Führungspositionen ein – wie etwa Stefan Hartung, ehemals NPD, oder Martin Kohlmann von „Pro Chemnitz“.

Inzwischen reisen auch westdeutsche Coronaleugner:innen von „Querdenken“, Compact Magazin oder „Demokratischer Widerstand“ in die östliche Provinz. Sie wollen das Erfolgsrezept ihrer ostdeutschen Kamerad:innen in den alten Bundesländern kopieren. Doch es gebe auch eine sächsische Besonderheit bei den Protesten im Freistaat: Dort seien Verschwörungsmythen besonders weitverbreitet und die extreme Rechte besonders stark, so Winkler.

Diese explosive ideologische Mischung bekommt Doritta Korte, Vorsitzende der Initiative „colorido e.V.“, in Plauen besonders hart zu spüren. Dort marschieren regelmäßig über 1.000 Menschen durch die kleine Stadt im Vogtland. „Das ist für unsere Stadt zu viel“, sagt Korte verzweifelt. Gegen Corona-Maßnahmen protestieren aber dort nicht nur Rechtsextreme von der neonazistischen Kleinstpartei „Der III. Weg“ oder der AfD, sondern auch lokale Busunternehmer, Handwerksmeister und Mitglieder der Kirche. „Man ist erschüttert, wer da läuft. Und dabei merken sie wahrscheinlich gar nicht so richtig, wer sie eigentlich dirigiert“.

Solche Allianzen sind in Plauen nichts Neues. Seit 2015 laufen unterschiedlichste Bürger:innen der Stadt Hand in Hand gegen Geflüchtete. Korte ist aber angesichts der aktuellen Situation besonders alarmiert. „Es läuft jetzt auf einen eskalierenden Höhepunkt zu“. Die örtliche AfD spricht von „Revolution“, der „III. Weg“ vom „Tag X“ und sonstige Coronaleugner:innen von einer „Vergeltung für die Maßnahmen“. „Alle zusammen gehen äußerst aggressiv vor“, beklagt Korte. Demonstrierende scheuen nicht mehr vor einer Konfrontation mit der Polizei – oder mit der Zivilgesellschaft. Die Initiative „colorido“ ist regelmäßig Zielscheibe für Anfeindungen und Hetze. „Wir erhalten Drohungen bis hin zu Morddrohungen“, so Korte.

Doch bei Hassparolen bleibt es nicht: Korte berichtet von frischen Tierherzen, die Coronaleugner:innen im Briefkasten der Initiative hinterlassen. „Was macht das mit einem?“, sagt Korte mit einer zittrigen Stimme. „Das macht eine ganze Menge mit einem. Man dreht sich im Dunkeln öfter um, wenn man nach Hause geht“. Ältere Mitglieder des Vereins stellen sich schützend vor der jüngeren – „damit sie diese Anfeindungen nicht ganz so ausgesetzt sind“. Denn die Gefahr ist hautnah: Führende Köpfe vom „III. Weg“ und der „Freien Sachsen“ zählen zu ihren Nachbar:innen in Plauen. Und Korte warnt: „Das sind nicht nur ein paar Schwurbler“.

Das Problem ist schon lange bekannt. Seit 2017 will die Initiative „colorido“ mit Kunstaktionen, Diskussionen und Recherchearbeit über Demokratie aufklären und Rechtsextremismus bekämpfen. Doch ihre Arbeit in der sächsischen Provinz ist keine politische Selbstverständlichkeit, der Verein muss aktuell um ihre Existenz bangen. Ende November erhielt die Initiative die Ablehnung über ihre weitere Finanzierung im Rahmen des staatlichen Förderprogramms „Weltoffenes Sachsen“. Damit sei künftig kein einziges Demokratie-Projekt im Rahmen des Programms im Vogtland gefördert. „Das ehrenamtliche Hamsterrad läuft so nicht weiter“, kritisiert Korte. Auch der Nachwuchs fehle.

Die analogen Probleme vor Ort in Sachsen haben häufig auch digitale Ursachen. Das berichtet Simone Rafael, Leiter des Digitalteams der Amadeu Antonio Stiftung und Chefredakteurin von Belltower.News, zum Schluss der Pressekonferenz. Auf Telegram stoßen User:innen niedrigschwellig und leicht auf antidemokratische bis rechtsextreme Kanäle und Gruppen, die die Proteste gegen Corona-Maßnahmen weiter befeuern. In diesen Kanälen werden auch Hasskampagnen organisiert und Privatadressen von vermeintlichen „Gegner:innen“ geteilt – wie die der sächsischen Gesundheitsministerin Köpping.

Allein in Sachsen gibt es inzwischen über 100 Kanäle und 80 Gruppen mit regionaler Ausrichtung und einem Bezug zu den Protesten gegen Corona-Maßnahmen. Fast jede größere Ortschaft weist mindestens eine Gruppe auf, hinzu kommen regionale Hotspots. Viele Gruppen entstehen lokal, dienen aber auch zur überregionalen Vernetzung. Dabei ist das Spektrum breit gefächert – von eher bürgerlich auftretenden „Querdenken“-Gruppen wie „Eltern stehen auf“ über die „Freiheitsboten“ vom „Querdenken“-Arzt Bodo Schiffmann bis hin zur antisemitischen Verschwörungssekte „QAnon“ und der rechtsextremen „Identitäre Bewegung“.

Rafael zieht eine nüchterne Bilanz: Bislang kooperiert Telegram nicht mit staatlichen Behörden, eine Moderation findet auf dem Messengerdienst kaum statt. Rafael fordert, dass das NetzDG auch auf Messengerdienste erweitert wird – was im Februar 2022 passieren könnte. „Aber: Selbst wenn das NetzDG auf Messengerdienste erweitert wird, ist die Wirkung unklar. Zahlt das Netzwerk die Strafen? Bisher nicht. Und wenn nicht, wird das Netzwerk in der Konsequenz gesperrt?“ Auch das lasche Handeln von Polizei und Verfassungsschutz kritisiert Rafael. „Bei Mordaufrufen könnten Strafverfolgungsbehörden etwas genauer hingucken“, resümiert Rafael. Die Proteste in Sachsen mutieren weiter – und nach dem Mord in Idar-Oberstein und dem Familienmord in Senzig ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie ihr nächstes Todesopfer verlangen.

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