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Verschobene Richterinnenwahl Die Verwüstung des Debattenraums

Die Bundesregierung lässt die Wahl einer Richterin für das Bundesverfassungsgericht platzen, nachdem Aktivist*innen und Medien von Rechtsaußen gegen eine Kandidatin mobil gemacht hatten. Die in der Öffentlichkeit attackierte Frauke Brosius-Gersdorf muss sich nun selbst gegen Gerüchte und Lügen verteidigen; in einem teilweise verwüsteten Debattenraum ist allerdings an die Stelle des Arguments längst das Gerücht getreten.

 
Frauke Brosius-Gersdorf verteidigt sich gegen die Lügen und Gerüchte bei Markus Lanz. (Quelle: picture alliance / teutopress | -)

„Linksradikale Juristin soll Verfassungsrichterin werden!“, „hart-linke Richterin“ will „legale Abtreibung bis zur Geburt“ und schließlich auch noch Plagiatsvorwürfe eines umstrittenen „Plagiatsjägers“, der medial großkalibrig um sich schießt: Die Kampagne gegen die Juristin Frauke Brosius-Gersdorf umfasste alle Werkzeuge, die im Instrumentenkasten für politische Feldzüge bereitliegen. Auch Beleidigungen und Drohungen gehören dazu.

Qualitativer Sprung

Bereits seit Jahren beobachten Fachleute orchestrierte Kampagnen, Drohungen und Einschüchterungen gegen einzelne Personen und Institutionen; waren es vor Jahren noch linke Politiker*innen oder Fach-Journalist*innen sowie Vertreter*innen von Stiftungen, die gezielt von extrem Rechten attackiert und diffamiert wurden, ist die Schlagkraft von solchen Kampagnen so weiterentwickelt worden, dass nun auch die Bundespolitik maßgeblich beeinflusst werden kann. Dies markiert einen qualitativen Sprung in der Art und Weise, wie persönliche Diffamierungen, politische Interessen und digitale Netzwerke ineinandergreifen.

Zu dieser Gemengelage gesellt sich ein konservatives Milieu, das sich zunehmend der Verlockung einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit der stramm-rechten autoritären Bewegung hingibt. Seien es gemeinsame Abstimmungen in Bund und Ländern oder das verbindende Element, gegen „Woke-Linke“ bzw. alles, was als irgendwie links-grün einsortiert wird, vorzugehen. Beispielsweise gegen eine Juristin, die als vermeintliche „Hardcore-Abtreibungsbefürworterin“ markiert von einer Allianz aus erzkonservativen Politiker*innen, religiösen Fundamentalist*innen sowie der rechten Mediensphäre von „BILD“ über „Nius“ bis „Auf1“ sowie einer Vielzahl von Blogs und Influencer*innen angegangen wird. Insbesondere Themen wie Feminismus, Abtreibung und alle Themen aus dem Bereich Genderstudien lassen sich instrumentalisieren, um vermeintliche Skandale und „linksgrünen Irrsinn“ zu inszenieren. Beliebt sind dafür Facharbeiten, aus denen Zitate ohne Kontext auf Social Media verarbeitet werden.

Juristische Fachdiskussion über Straflosigkeit

Als Vorwand für die Attacken gegen Brosius‑Gersdorf musste ein Bericht der Kommission zur „reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ herhalten. An diesem Gutachten hatte die Juristin mitgearbeitet, vorgestellt wurde es im vergangenen Jahr; es ist öffentlich zugänglich auf der Website des Bundesjustizministeriums.

In der Kommission saßen 18 renommierte Professorinnen und Professoren. Niemand in diesem Bericht stellt das Lebensrecht ungeborener Kinder grundsätzlich infrage. Vielmehr beantworten die Fachleute Fragen der Bundesregierung und legten dabei ein Problem offen, das seit Jahrzehnten in der Rechtswissenschaft bekannt ist: Ein Schwangerschaftsabbruch ist in Deutschland in bestimmten Fällen zwar straffrei, bleibt aber gleichzeitig rechtswidrig: „Es bleibt der einzige Ausnahmefall, in dem der Gesetzgeber eine Straflosigkeit bei Rechtswidrigkeit ausdrücklich gesetzlich im Strafgesetzbuch regelt.“

Verfassungsrechtliche Zwickmühle

Tatsächlich hat sich Brosius-Gersdorf nicht für straffreie Abtreibungen bis zur Geburt ausgesprochen. Dieses Motiv taucht immer wieder auf, beispielsweise kursieren solche Behauptungen auch in christlich-fundamentalistischen Milieus der USA oder im Kontext mit antisemitischen Ritualmordlegenden.

In dem Bericht der Kommission zu Schwangerschaftsabbrüchen wird vielmehr ein weiterer Aspekt diskutiert: In Notsituationen muss abgewogen werden – das Wohl des ungeborenen Kindes gegen das der Mutter – obwohl beiden dieselbe Menschenwürde zugesprochen wird. Die Kommission skizziert zwei theoretische Optionen: Entweder man spricht dem ungeborenen Leben nicht dieselbe Menschenwürde zu wie dem geborenen, oder man akzeptiert, dass Menschenwürde in Extremsituationen gegeneinander abgewogen werden darf. Eine Entscheidung darüber haben die Expert*innen ausdrücklich offengelassen. Es geht nämlich um juristische Interpretationen und Möglichkeiten, nicht um persönliche Meinungen.

Das Geschäft mit den Gerüchten

Eine kalte Juristin, die sich angeblich für Schwangerschaftsabbrüche bis zur Geburt ausspricht: ein perfektes Feindbild für die Schlagzeilen und Schlachten auf Social Media. Damit erhielt die Attacke eine Wirkungsmacht, die über das Ökosystem sogenannter „alternativer“ rechter Medien hinausgeht. Der Fall zeigt anschaulich, wie die Akteur*innen in diesem Netzwerk in der Lage sind, Narrative innerhalb kürzester Zeit in große Reichweiten zu überführen und dabei professionell mit Desinformation und Skandalisierung arbeiten. Es handelt sich dabei allerdings um kein zentral orchestriertes Netzwerk – das wäre Verschwörungsideologie – sondern um zahlreiche Influencer, Ex-Journalisten und weitere Aktivtist*innen, die teilweise eng miteinander verwoben sind aber auch miteinander konkurrieren. Denn bei dem Geschäft mit Gerüchten geht es um viel Geld.

Die Parallelen zu den Vereinigten Staaten sind offenkundig: Auch dort haben sich erzkonservative, rechte und ultrarechte Kräfte gemeinsam mit evangelikalen und christlich-fundamentalistischen Akteuren gegen liberale Errungenschaften beispielsweise im Bereich der reproduktiven Rechte formiert. Die gezielte Unterwanderung und Instrumentalisierung gesellschaftlicher Debatten gehören dort seit Jahren zum Repertoire. Deutschland folgt dieser Entwicklung mit zeitlicher Verzögerung, aber mit deutlichen Anzeichen: Teile der Union und weiterer Parteien übernehmen immer wieder AfD-Narrative und verschieben so den Diskurs.

Digitale Misogynie‑Netzwerke

Es ist auch kein Zufall, dass sich diese besonders wirkungsmächtige Kampagne gegen eine Frau richtet. Hier überlagern sich verschiedene Strategien: geschlechterbezogene Abwertung, moralisch aufgeladene Narrative und persönliche Attacken. Diese Muster fügen sich ein in eine breitere Entwicklung, in der Frauen und marginalisierte Gruppen zunehmend Zielscheibe werden; ein Prozess, der in der Fachliteratur als silencing beschrieben wird: das systematische Zurückdrängen, Delegitimieren oder Mundtotmachen bestimmter Stimmen im öffentlichen Diskurs.

Die Kampagne gegen die designierte Verfassungsrichterin fügt sich somit in ein transnational beobachtbares Muster ein. Sie zeigt, wie globale digitale Misogynie‑Netzwerke – oft ideologisch aus der US‑amerikanischen Alt‑Right inspiriert – auch in Europa Anschluss finden und wie diese Strukturen nationale Debatten zunehmend beeinflussen und prägen. Diese Netzwerke sind mittlerweile keine Randphänomene mehr, sondern üben Druck und zunehmend Einfluss auf politische Prozesse und Medien aus.

Benennen und widersprechen

Umso bedeutsamer ist es, dass sich die betroffene Juristin selbst öffentlich zu Wort gemeldet, die Kampagne klar benannt und ihr entschieden widersprochen hat. Dies ist ein außerordentlich mutiger und zugleich strategisch notwendiger Schritt: Desinformation nicht nur thematisieren, sondern auch aktiv zurückweisen. Eine Herausforderung, an der viele Medien regelmäßig scheitern. Denn auch Fakten brauchen Haltung.

Brosius-Gersdorf versucht zumindest, die Angelegenheit wieder auf eine sachlich-argumentative Ebene zu heben. Ein Unterfangen, das volle Unterstützung verdient, das aber viele Menschen nicht erreichen wird. Denn die Diffamierung zielt nicht nur auf ihre Person ab, sondern auf die Zerstörung einer gemeinsamen politischen Sprache. Gerüchte ersetzen das Argument. Das alles folgt einer altbekannten Strategie.

Politische Gegner werden zu Feinden

Hannah Arendt analysierte bereits für die Zeit zwischen den Weltkriegen, wie sich politische Auseinandersetzungen radikalisierten und Akteure Methoden des Bürgerkriegs in den öffentlichen Diskurs trugen.

„Was in den Bürgerkriegen geschieht, ist die Aufhebung der Unterscheidung zwischen Feind und Gegner; der Gegner ist ein Partner in der Auseinandersetzung, der Feind ist der, den es zu vernichten gilt.“ (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft)

Beispielhaft ist diese Feindmarkierung in den abwertenden Tiraden gegen (vermeintlich) linke oder grüne Politikerinnen dokumentiert. Diese Umkodierung vom politischen Gegner zum Feind war für Arendt eine Schlüsselstrategie autoritärer Bewegungen: Durch die Feindmarkierung wird nicht nur ein Argument entkräftet – das wäre ein Diskurs – sondern die politische Diskussion selbst zerstört.

„An die Stelle des Arguments tritt der Verdacht, an die Stelle der Auseinandersetzung tritt die Ausschaltung.“ (Macht und Gewalt)

Arendt spricht in diesem Zusammenhang von der „Ersetzung des Politischen durch Feindschaften“; ein Zustand, in dem Diskurs unmöglich wird – und den wir alltäglich in den sozialen Medien live mitverfolgen können bzw. müssen. Diese Ersetzung greift zunehmend auch auf den politischen Betrieb und Institutionen über; genau hier beginnt die Erosion des demokratischen Rechtsstaats.

Öffentlicher Raum wird zum Kriegsgebiet

Mit Drohungen und übler Nachrede wird signalisiert: Wer in das öffentliche politische Feld tritt, wird nicht argumentativ, sondern persönlich attackiert und gegebenenfalls vernichtet. Der öffentliche Raum wird zum permanenten Kriegsgebiet: „Die Verwüstung ist ein Zustand, in dem Menschen nicht mehr miteinander reden können und niemand mehr sicher ist, wer der andere ist.“ (Arendt in Elemente und Ursprünge)

Der Vorgang demonstriert die hohe Kampagnenfähigkeit rechter Akteure in Deutschland. Er verdeutlicht, dass die wirkungsmächtigsten Desinformationsströme intern initiiert werden. Ausländische Akteure agieren hingegen vor allem als Verstärker bestehender Narrative. Im Fall der Juristin Brosius-Gersdorf zeigt sich, wie nationale Netzwerke Desinformation, persönliche Diskreditierung und politische Interessen verdichten können.

Alles ganz demokratisch?

Die BILD behauptet in einem Kommentar, es habe sich um keine Kampagne gehandelt, sondern um Kritik. Das gehöre zur Demokratie. Kritik und Diskussionen, auch hart in der Sache, sind sogar das Kernstück von Demokratie – doch wird das Prinzip des sachlichen Gegners durch die Logik des Feindes ersetzt, kippt eine demokratische Auseinandersetzung in eine destruktive Kampagne, in der nur noch das Recht des Stärkeren gilt. Autoritären Charakteren gefällt das.

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