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Rezension Den—kritischen—Mindestabstand—wahren

Das Buch „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“, herausgegeben von Heike Kleffner und Matthias Meisner, ist erschienen. Mehr als 40 Expert*innen haben sich beteiligt. Timo Büchner erklärt, warum der Sammelband ein absolutes Muss ist.

 
Titelbild des Buches " Fehlender Mindestabstand (Klappenbroschur) Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde." (Quelle: Herder Verlag )

Bereits über ein Jahr hält uns die Covid-19-Pandemie in Atem: Physical Distancing, kräftezehrender Lockdown und scheinbar endloses Warten auf den Impfstoff. Ein Jahr Pandemie bedeutet: unzählige Erkrankte und zehntausende Tote in Deutschland. Allerdings hält uns keineswegs „nur“ die Pandemie in Atem: Seit über einem Jahr gehen Menschen, die die Pandemie und das tödliche Virus leugnen, auf die Straße. Diese Menschen organisieren und vernetzen sich – und nennen sich „Die Basis“, „Eltern stehen auf“, „Querdenken“, „WIR 2020“ etc.

Die ersten Demonstrationen der Coronaleugner*innen fanden im Frühjahr 2020 in Berlin und Stuttgart statt. Im Laufe der Monate haben sich die führenden Köpfe und die Teilnehmer*innen der bundesweiten Demonstrationen stark radikalisiert. Zwar betonen sie stets, wie friedlich und liebevoll die Bewegung sei. Aber die Gewalt gegen Journalist*innen und der Hass gegen Politiker*innen und Virolog*innen zeigen, welch akute Gefahr von der Bewegung ausgeht. Inmitten der angespannten und eskalierenden Gemengelage ist das Buch „Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde“, herausgegeben von den renommierten Expert*innen Heike Kleffner und Matthias Meisner, erschienen. Es ist zweifelsohne das Buch der Stunde.

352 Seiten, über 40 Autor*innen, zahlreiche Artikel und Interviews: Das Buch, das durch seinen Reichtum fundierter Texte glänzt, ist Analyse und Appell zugleich. Ein Appell an alle, den kritischen Mindestabstand zu Antisemitismus und Verschwörungserzählungen, Desinformationen und Rassismus zu wahren. Das Buch knüpft an das Format der beiden – im Übrigen: ebenso lesenswerten – Bücher „Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen“ (2017) und „Extreme Sicherheit. Rechtsradikale in Polizei, Verfassungsschutz, Bundeswehr und Justiz“ (2019) an. Die einzelnen Texte, die in der Regel zwischen fünf und zehn Seiten umfassen, sind kenntnisreich und kompakt. Das ist kein Zufall. Denn: Die beiden Herausgeber*innen konnten für den Sammelband die profiliertesten Kenner*innen der Szene gewinnen.

Das Buch besteht aus fünf Blöcken: (1) „Schlaglichter: Von Stuttgart bis Washington, D.C.“, (2) „Ideologien: Von Rassismus bis Verschwörungsglaube“, (3) „Netzwerke: Akteurinnen und Akteure der neuen Allianz“, (4) „Die Angegriffenen: Beleidigungen, Hetzkampagnen, Morddrohungen“ und (5) „Der große Graben? Recht, Staat und Gesellschaft in der Pandemie“. Die einzelnen Blöcke umfassen mehrere Texte. Es ist aufgrund der Informationsdichte und der Vielzahl der Texte unmöglich, die Inhalte im Detail wiederzugeben. Daher möchte ich im Folgenden eine Auswahl vorstellen.

Der erste Block geht den Ursprüngen und der starken Reichweite der Coronaleugner*innen auf den Grund. So analysiert Dietrich Krauss in seinem Text, weshalb die „Querdenken“-Bewegung ihre Wurzeln ausgerechnet in Baden-Württemberg hat. Seine Spurensuche führt zur Anthroposophie, der okkulten Lehre des Esoterikers Rudolf Steiner. Die anthroposophischen Waldorfschulen, einst im Südwesten gegründet, haben eine enorme Strahlkraft. Esoterik und Wissenschaftsfeindlichkeit tragen Früchte: Zahlreiche Vertreter*innen der Waldorfpädagogik sind in die Demonstrationen der Coronaleugner*innen involviert.

Der zweite Block legt die Ideologien der Coronaleugner*innen offen. Beispielsweise informieren Pia Lamberty und Katharina Nocun über die elementare Bedeutung von Verschwörungserzählungen. Sie erklären, warum Menschen an die absurdesten und krudesten Erzählungen glauben. Felix Huesmann schreibt über den Boom der antisemitisch-verschwörungsideologischen „QAnon“-Sekte aus den USA. In seinem Text wird die judenfeindliche Traditionslinie, in der sich die Gläubigen der Sekte bewegen, deutlich.

Im dritten Block werden die Netzwerke der Coronaleugner*innen unter die Lupe genommen. In beeindruckender Tiefe. So schreibt Sebastian Leber über die personellen Überschneidungen zwischen den heutigen Demonstrationen und den damaligen „Montagsmahnwachen“ im Kontext des Ukraine-Konflikts 2014. Die Kontinuitäten sind erschreckend. Tilman Steffen informiert über die Rolle der AfD, Konrad Litschko über die Rolle der Neonazis, Andreas Speit über die Rolle der Reichsbürger*innen, Karolin Schwarz über die Rolle des Internets. Die einzelnen Texte sind detail- und kenntnisreich. Hervorheben möchte ich den Text von Julius Geiler über die Rolle der „alternativen“ YouTuber*innen-Szene. Es handelt sich um eine finstere Parallelwelt fernab journalistischer Standards.

Es ist ausgesprochen wichtig, die Coronaleugner*innen in ihrer inhaltlichen und personellen Struktur zu beleuchten. Aber gleichzeitig muss die Perspektive derjenigen, die durch die Meute der Leugner*innen bedroht und verletzt werden, in den Fokus gerückt werden. Das leistet der vierte Block. Hinter der Fassade einer friedlichen Bewegung steckt purer Hass gegen Journalist*innen, Politiker*innen, Virolog*innen und gesellschaftliche Minderheiten wie asiatisch gelesene Menschen und Juden*Jüdinnen. Mehrere Interviews führen die brisante, ja geradezu explosive Lage, in der wir uns befinden, vor Augen.

Der fünfte und zugleich letzte Block widmet sich u.a. der gesellschaftlichen Zusammensetzung der Coronaleugner*innen-Szene: Wer protestiert? Welche Parteipräferenzen haben sie? Welches Verhältnis haben die Demonstrant*innen zur Medienlandschaft? Der Block untersucht die Strategien der Coronaleugner*innen und die Gegenstrategien von Staat und Zivilgesellschaft. Beispielsweise bringt Stephan Anpalagan in seinem Text die – bislang kaum vorhandene – Einsatztaktik der Polizei auf den Punkt.

Insgesamt fällt auf, dass sich die einzelnen Texte sehr gut ergänzen. Ein Beispiel: In mehreren Texten werden unterschiedliche Formen des Antisemitismus, die im Kontext der Demonstrationen in Erscheinung treten, illustriert. Die qualitative Analyse von Robert Andreasch, der sich mit der Instrumentalisierung des NS-Widerstands und der Shoah-Relativierung in Süddeutschland auseinandersetzt, wird z.B. durch quantitative Daten von Felix Balandat, Nikolai Schreiter und Annette Seidel-Arpacı (RIAS Bayern) ergänzt. Das Geleitwort des Sammelbandes, das der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, geschrieben hat, macht unmissverständlich klar: Der Antisemitismus ist die einende Klammer der Coronaleugner*innen-Szene.

Schuster fordert mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen: „Alle Ebenen – seien es die Politik, die Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft, Justiz, Polizei, Schulen, der Sport und die Religionswissenschaften – sind jetzt gefordert, diesen antidemokratischen Tendenzen entgegenzuwirken.“ (S. 11) Ein erster Schritt sollte die Lektüre des vorliegenden Buches sein, das sicherlich eines der wichtigsten politischen Sachbücher des Jahres sein dürfte.

 

Heike Kleffner / Matthias Meisner (Hrsg):
Fehlender Mindestabstand. Die Coronakrise und die Netzwerke der Demokratiefeinde.
Freiburg 2021

Herder Verlag
352 Seiten
ISBN: 978-3-451-39037-1
22 Euro.

https://www.herder.de/geschichte-politik-shop/fehlender-mindestabstand-klappenbroschur/c-34/p-20815/

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